Erklärung zur Durchsuchungswelle in Berliner linken Buch- und Infoläden

Stand: Januar 2011   -   download als pdf vom Februar 2011 (Flyer, 67 kb)

Am 22. Dezember 2010 erschienen zum wiederholten Mal Beamte des Berliner Staatschutzes in den Buchläden ohschwarzer Stern21, Schwarze Risse und M99 und beschlagnahmten die letzten Ausgaben der Szenezeitschrift Interim. Bereits in den vorangegangen Monaten - im Juli, September und Oktober 2010 - war die Polizei in diesen Läden aufgeschlagen und hatte Zeitschriften sowie die Computer der Buchhandlungen beschlagnahmt. Einige der Arbeitsgeräte konnten erst nach drei Tagen beim LKA (»Abteilung Linksextremismus«) wieder abgeholt werden. Begründet wurden sie jedes Mal mit dem §130a StGB »Anleiten zu Straftaten« in Verbindung mit §40 WaffenG (»Verbotene Waffen inklusive des Verbots, solche herzustellen oder zur ihrer Herstellung aufzufordern«).

Neu an den Durchsuchungsbeschlüssen ist, dass die Geschäftsführer der jeweiligen Buch- bzw. Infoläden als Beschuldigte aufgeführt werden. Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Beschuldigten hätten die Ausgaben der Interim selbst ausgelegt und seien über den Inhalt informiert gewesen. Die Vorwürfe »Aufforderung zu Straftaten« und »Verstoß gegen das Waffengesetz« werden nun gegen die Buchhändler und andere Ladenbetreiber_innen erhoben, die für den Inhalt der von ihnen vertriebenen Schriftstücke verantwortlich gemacht werden sollen.
Die Staatsanwaltschaft möchte mit diesem Verfahren die bisherige Rechtsprechung revidieren, die davon ausgeht, dass Buchhändler zu wenig Kontrollmöglichkeiten haben, um die Rechtmäßigkeit der Inhalte der von ihnen angebotenen Bücher und Zeitschriften zu beurteilen.
So, wie der §130a keine konkrete Tat unter Strafe stellt, sondern die »Anleitung« zu einer solchen schon zur Straftat macht, versucht die Staatsanwaltschaft nun mit dieser politischen Inititiative, vom bloßen Vorhandensein bestimmter Schriftstücke auf deren inhaltliche Befür- wortung durch die Ladenbetreiber zu schließen und diese zu kriminalisieren.
Wenn HändlerInnen und LeserInnen nicht wissen, ob das radikale Blatt, das sie in Händen halten, nicht morgen kriminalisiert werden wird (und sie gleich mit) bedeutet das in der Praxis eine aktive Verunsicherung und Einschüchterung. "So verordnet man Selbstzensur", schrieb Oliver Tolmein 1987 anlässlich der Wiedereinführung des §130a.

Es geht der Staatsanwaltschaft aber nicht nur um eine gerichtliche Verurteilung. Ob sie mit ihrem Schuldkonstrukt vor Gericht Erfolg haben wird, ist ungewiß. Wie im Fall des §129a (»Bildung einer terroristischen Vereinigung«) ist auch der §130a ein sogenannter Ermittlungsparagraph, dessen Zweck u. a. darin besteht, die Staatsanwaltschaft dazu zu ermächtigen, Läden, Computer und Wohnungen zu durchsuchen.
Das Ziel besteht dabei weniger darin, bestimmte Zeitschriftenausgaben aus dem Verkehr zu ziehen, als in der Abschreckung: An vielen Orten, an denen inkriminierte Publikationen vermutet werden könnten, ist die Polizei offiziell nicht aufgetaucht. Linke Buchläden aber sind Schnittstellen zwischen breiter Öffentlichkeit und linken Strömungen und Subkulturen. Dadurch provozieren sie die staatlichen Repressionsorgane. Sie werden angegriffen, um Berüh- rungsängste zu verbreiten. Die einschüchternde Wirkung der Durchsuchungen ist um so stärker, je dürftiger die Anlässe sind - und je häufiger sie ohne öffentliche Reaktionen hingenommen werden. Für die Buchhandlungen bedeuten Durchsuchungen hohe Kosten und Arbeit. Wir gehen davon aus, dass dieser Druck die Buchhandlungen zur vorgelagerten Zensurbehörde für Szeneveröffentlichungen machen soll.

In den beschlagnahmten Zeitschriften wurden u. a. Anleitungen zum Bau eines Molotow-Cock- tails, eines Brandsatzes und eine Erklärung zu einem Anschlag auf einen Geldautomaten veröffentlicht. Vorgeblich sind es solche Anleitungen zu Gewalttaten, die Polizei und Justiz auf den Plan rufen. »Gewalt« aber wird äußerst selektiv verfolgt. Kein Staatsanwalt schreitet ein, wenn die bürgerlichen Medien oder ein bürgerlicher Funktionär wie Tilo Sarrazin die Ge- sellschaft zur Gewalttätigkeit anleiten, indem sie Chauvinismus, Rassismus und sozialen Hass schüren. Ob eine Äußerung als »Anleitung zu Straftaten« oder »Volksverhetzung« verstanden und verfolgt wird, hängt immer weniger von ihrem Inhalt als von dem Kontext ab, in dem die Aussage getroffen wird. Die heutige Gesellschaft hat für umstürzlerische Reden und Schriften etwas übrig, solange sie sich auf die Feuilletons, das Teater und die Kongresssäle beschränken. Radikale Kritik wird dort zugelassen, wo niemand Ernst damit macht, diese Verhältnisse abzuschaffen. An Orten aber, an denen aus Worten und Stimmen eine organisierte Kraft werden könnte, ist die Repression zur Stelle.
Linke Buchläden vertreiben Bücher, Broschüren und Flugblätter, die die politischen Verhältnisse analysieren, kritisieren und Handlungsoptionen diskutieren - aus unterschiedlichen Perspektiven, aber mit dem Ziel einer radikalen Veränderung der Gesellschaftsordnung. Dafür sollen sie kriminalisiert werden. Von diesem Kriminalisierungsversuch müssen sich alle betroffen fühlen, "die nicht einverstanden sind, und es auch noch wagen wollten, ihr Mißfallen öffentlich kundzutun." (O.Tolmein)

Wir lassen uns nicht einschüchtern und wir werden uns nicht selbst zensieren!
Verteidigen wir unabhängige und unkontrollierte Medien!
Für eine militant demokratische linke Öffentlichkeit!

Die Buchläden M99, oh21 und Schwarze Risse im Januar 2011

 

Die Solidaritätserklärung des Initiativkreises »unzensiert-lesen« kann auf folgender Seite unterzeichnet werden:
Solidaritäts­aufruf "Gegen Zensur"

Ältere Erklärungen der Buchläden: