Erklärung zur Durchsuchungswelle in Berliner linken Buch- und Infoläden

Stand: Ende Oktober 2010   -   zur aktuellen Erklärung   -   download als pdf (DIN A5-Flyer, 1,3 MB)

Am 26.Oktober 2010 erschienen Beamte des Landeskriminalamts Berlin in den Buchläden oh21 und Schwarze Risse sowie im Infoladen M99 und durchsuchten die Räume nach Ausgaben der Szenezeitschrift »Interim«. Im Buchladen im Mehringhof strebte die Polizei zudem an, ein weiteres Verfahren wegen der Plakate zu eröffnen, die zur Teilnahme an der Kampagne »Castor Schottern« aufrufen. Dieser Antrag auf Erteilung eines weiteren Durchsuchungsbeschlusses wurde jedoch von der Staatsanwaltschaft erst einmal negativ beschieden. Die Polizei wurde aber von der Staatsanwaltschaft angewiesen, das Material zu fotografieren.

Es war nicht das erste Mal, dass sich die Justiz mit Gewalt Zutritt zu linken Läden und Einrichtungen verschafft und und sie durchsucht hat. Allein in Berlin wurden innerhalb des letzten Jahres die Läden von Schwarze Risse sechsmal, der Infoladen M99 fünfmal, der Buchladen oh21 viermal und der Antifa-Laden Fusion / Red Stuff zweimal durchsucht. Bei den meisten Razzien ging es um inkriminierte Zeitschriften (unvollständige Chronik). Begründet wurden sie jedes Mal mit dem §130a StGB »Anleiten zu Straftaten« in Verbindung mit §40 WaffenG (Verbotene Waffen inklusive des Verbots, solche herzustellen oder zur ihrer Herstellung aufzufordern).

Neu an den Durchsuchungsbeschlüssen ist, dass die Geschäftsführer der jeweiligen Buch- bzw. Infoläden als Beschuldigte aufgeführt werden. Die Staatsanwaltschaft behauptet, die Beschuldigten hätten die Ausgaben der Interim selbst ausgelegt und seien über den Inhalt informiert gewesen. Die Vorwürfe »Aufforderung zu Straftaten« und »Verstoß gegen das Waffengesetz« werden nun gegen die Buchhändler und andere Ladenbetreiberinnen erhoben, die für den Inhalt der von ihnen vertriebenen Schriftstücke verantwortlich gemacht werden sollen. Die Staatsanwaltschaft möchte mit diesem Verfahren die bisherige Rechtsprechung revidieren, die davon ausgeht, dass Buchhändler zu wenig Kontrollmöglichkeiten haben, um die Rechtmäßigkeit der Inhalte der von ihnen angebotenen Bücher und Zeitschriften zu beurteilen. So, wie der §130a keine konkrete Tat unter Strafe stellt, sondern die »Anleitung« zu einer solchen schon zur Straftat macht, versucht die Staatsanwaltschaft nun mit dieser politischen Inititiative, vom bloßen Vorhandensein bestimmter Schriftstücke auf deren inhaltliche Befürwortung durch die Ladenbetreiber zu schließen und diese zu kriminalisieren.

Wenn HändlerInnen und LeserInnen nicht wissen, ob das radikale Blatt, das sie in Händen halten, nicht morgen kriminalisiert werden wird (und sie gleich mit), bedeutet das in der Praxis eine aktive Verunsicherung und Einschüchterung. "So verordnet man Selbstzensur", schrieb Oliver Tolmein 1987 anlässlich der Wiedereinführung des §130a.

Es geht der Staatsanwaltschaft aber nicht nur um eine gerichtliche Verurteilung. Ob sie mit ihrem Schuldkonstrukt vor Gericht Erfolg haben wird, ist ungewiß. Wie im Fall des §129a (»Bildung einer terroristischen Vereinigung«) ist auch der §130a ein sogenannter Ermittlungsparagraph, dessen Zweck u. a. darin besteht, die Staatsanwaltschaft dazu zu ermächtigen, Läden, Computer und Wohnungen zu durchsuchen. Das Ziel besteht dabei weniger darin, bestimmte Zeitschriftenausgaben aus dem Verkehr zu ziehen, als in der Abschreckung: An vielen Orten, an denen inkriminierte Publikationen vermutet werden könnten, ist die Polizei offiziell nicht aufgetaucht. Linke Buchläden aber sind Schnittstellen zwischen breiter Öffentlichkeit und linken Strömungen und Subkulturen. Dadurch provozieren sie die staatlichen Repressionsorgane. Sie werden angegriffen, um Berührungsängste zu verbreiten. Die einschüchternde Wirkung der Durchsuchungen ist um so stärker, je dürftiger die Anlässe sind -- und je häufiger sie ohne öffentliche Reaktionen hingenommen werden. Für die Buchhandlungen bedeuten Durchsuchungen hohe Kosten und Arbeit. Wir gehen davon aus, dass dieser Druck die Buchhandlungen zur vorgelagerten Zensurbehörde für Szeneveröffentlichungen machen soll.

In den beschlagnahmten Zeitschriften wurden u. a. Anleitungen zum Bau eines Molotow-Cocktails, eines Brandsatzes und eine Erklärung zu einem Anschlag auf einen Geldautomaten veröffentlicht. Vorgeblich sind es solche Anleitungen zu Gewalttaten, die Polizei und Justiz auf den Plan rufen. »Gewalt« aber wird äußerst selektiv verfolgt. Kein Staatsanwalt schreitet ein, wenn die bürgerlichen Medien oder ein bürgerlicher Funktionär wie Thilo Sarrazin die Gesellschaft zur Gewalttätigkeit anleiten, indem sie Chauvinismus, Rassismus und sozialen Hass schüren. Ob eine Äußerung als »Anleitung zu Straftaten« oder »Volksverhetzung« verstanden und verfolgt wird, hängt immer weniger von ihrem Inhalt als von dem Kontext ab, in dem die Aussage getroffen wird. Die heutige Gesellschaft hat für umstürzlerische Reden und Schriften etwas übrig, solange sie sich auf die Feuilletons, das Theater und die Kongresssäle beschränken. Radikale Kritik wird dort zugelassen, wo niemand Ernst damit macht, diese Verhältnisse abzuschaffen. An Orten aber, an denen aus Worten und Stimmen eine organisierte Kraft werden könnte, ist die Repression zur Stelle.

Linke Buchläden vertreiben Bücher, Broschüren und Flugblätter, die die politischen Verhältnisse analysieren, kritisieren und Handlungsoptionen diskutieren - aus unterschiedlichen Perspektiven, aber mit dem Ziel einer radikalen Veränderung der Gesellschaftsordnung. Dafür sollen sie kriminalisiert werden. Von diesem Kriminalisierungsversuch müssen sich alle betroffen fühlen, "die nicht einverstanden sind, und es auch noch wagen wollten, ihr Mißfallen öffentlich kundzutun." (O. Tolmein) Wir lassen uns nicht einschüchtern und wir werden uns nicht selbst zensieren!

Verteidigen wir unabhängige und unkontrollierte Medien! Für eine militant demokratische linke Öffentlichkeit!

M99, oh21, Schwarze Risse

Diskussionsveranstaltung mit Fritz Burschel, Anne Roth, Oliver Tolmein u.a.
Mittwoch, 17.11., 19:30 Uhr im Festsaal Kreuzberg