Frankfurter Rundschau vom 28.2.2011: Buchhändlerstreit Berlin: Welche Buchhändler künftig was lesen müssen

Von Mathias Becker

Die linken Buchläden Schwarze Risse, Infoladen M99 und OH21 in Berlin sind angeklagt, Zeitschriften zu verkaufen, die zu Straftaten anleiten. Das Prekäre daran: Großbuchhandlungen können für die von ihnen vertriebenen Titel nicht zur Rechenschaft gezogen werden.

Muss ein Buchhändler den Inhalt einer Zeitschrift verantworten, die in seinem Geschäft zu bekommen ist? In Berlin steht gegenwärtig der Geschäftsführer einer Buchhandlung vor Gericht, weil er, so die Anklage, eine Zeitschrift „einem nicht eingegrenzten Kundenkreis griffbereit zur Verfügung gestellt und zumindest billigend in Kauf genommen“ habe, „dass der Inhalt bestimmter Ausgaben an die Öffentlichkeit gelangt“.

In den nächsten Monaten werden insgesamt vier solcher Prozesse gegen Buchhandlungen stattfinden. Ihre Betreiber werden beschuldigt, „zu Straftaten angeleitet“ zu haben. Dabei geht es in erster Linie um die Zeitschrift „Interim“, eine Sammlung von Flugblättern, Zeitungsausschnitten und, je nach Gusto, „Bekenner-“ beziehungsweise „Selbstbezichtigungsschreiben“ aus der autonomen Szene.

Eine Frage der Identifikation

Die „Interim“ erscheint seit 1988 und und gibt Genie und Wahnsinn des linksautonomen Hauptstadt-Milieus unverdünnt wieder. Die Ausgaben 713 und 714 enthalten Textpassagen wie „Das Abfackeln von Geldautomaten gestaltet sich relativ einfach. Dazu nehmt ihr ...“ - Grund für die Staatsanwaltschaft, Anklagen gegen die Buchhandlungen Schwarze Risse, OH21 und den Infoladen M99 zu erheben, in denen die „Interim“ erhältlich gewesen sein soll.

Das ist brisant, denn bisher geht die Rechtsprechung ausdrücklich davon aus, dass Buchhandlungen ihr Sortiment nicht auf strafbare Inhalte kontrollieren müssen - ebenso wenig wie ein Internetanbieter die bei ihm gespeicherten Webseiten.

Solange eine Schrift nicht verboten ist - und das ist die „Interim“ nicht - , durfte ein Buchhändler bisher die Frage nach ihrer Strafbarkeit getrost der Justiz überlassen. Aus bürgerrechtlicher Sicht sprechen dafür auch gute Gründe, nicht zuletzt der, dass sich mit den politischen Verhältnissen auch die Definition ändert, was als zu ahndende Aufforderung zu Straftaten gilt - von „Friede den Hütten, Krieg den Palästen!“ bis hin zu „Blockiert den Naziaufmarsch in Leipzig!“

Die Berliner Staatsanwaltschaft bestätigte auf Nachfrage, dass es in den anstehenden Verfahren darum gehen wird, den Buchhändlern nachzuweisen, dass sie die Inhalte der „Interim“ kannten und als strafbar erkannten. Auf „normale Großbuchhandlungen“ aber hätte eine Verurteilung keine Auswirkungen. Denn, argumentiert der Staatsanwalt, eben weil es sich um Buchläden mit einem dezidiert linkspolitischem Sortiment handle, sei davon auszugehen, dass die Angeklagten die von ihnen vertriebenen Zeitschriften kennen und befürworten würden!

Die nächste Verhandlung findet am 8. März im Amtsgericht Tiergarten statt. Sollte es tatsächlich zu einer Verurteilung kommen, würde daraus im Grunde folgen, dass Filialen von Thalia oder Hugendubel strafbare Texte verbreiten dürften - während Buchhandlungen mit politischer Tendenz den Inhalt ihrer Regale zu prüfen und zu verantworten hätten.

Tag für Tag wird im öffentlich-rechtlichen und im privaten Fernsehen erschlagen, erschossen, erdrosselt oder vergiftet. Bis ins kleinste Detail. Wurde jemals ein Intendant angeklagt, das Internet abgeschafft? Absurd der Gedanke.

Quelle: Frankfurter Rundschau vom 28.2.2011: Buchhändlerstreit Berlin: Welche Buchhändler künftig was lesen müssen