Neues Deutschland vom 19.2.2011: Im Visier der »Zensurbehörde«

Von Peter Kirschey

Buchhändler wegen Beihilfe zur Anleitung zu Straftaten und Verstoß gegen das Waffengesetz angeklagt

Die Szene hatte schon etwas Gespenstisches. Der Saal 101 im Kriminalgericht Moabit war gestern hermetisch abgeriegelt, die wenigen Zuhörer mussten sich einer verschärften Kontrolle unterziehen lassen, ihre Personalien wurden registriert. Noch vor Verhandlungsbeginn wurden Vertreter der Tagespresse mit dem Argument abgewiesen, die Pressebank sei bis auf den letzten Platz besetzt. Erst auf Intervention der Verteidigung fanden sich, welch ein Wunder, doch Plätze für Zuhörer und Presseleute. Was geschah da im Gerichtssaal? Ist ein gefährlicher Terrorist oder Serienmörder angeklagt, der verschärfte Sicherheitsmaßnahmen notwenig macht?

Nichts von dem. Das Ganze gehörte zu einer Inszenierung des Amtsgerichts Tiergarten. Das Gespenst einer »linken Gefahr«, eines drohenden Anschlags auf die freiheitlich-demokratische Grundordnung soll da heraufbeschworen werden. Und der Richter spielt mit. Angeklagt ist - tatsächlich - ein Buchhändler. Wegen »Beihilfe zur Anleitung zu Straftaten und zu einem Verstoß gegen das Waffengesetz«. F. C., als Verantwortlicher des Buchladens »oh 21« in der Oranienstraße, soll Exemplare der Zeitschriften »Interim« und »Prisma« ausgelegt haben, in denen auch Anleitungen zum Bau von Molotow-Cocktails enthalten sind. Da ist auch zu lesen, wie man mit Farbe kleckst, Oberleitungen kurzschließt, Fahrscheinautomaten blockiert oder Schlüssellöcher zuklebt. So sagt es die Staatsanwaltschaft.

Während im Saal eine Justizwachtmeisterin friedlich den Schlaf der Gerechten schlief, draußen weitere Prozessbeobachter lautstark Einlass begehrten, der Richter ausgesprochen allergisch auf frische Luft reagierte und die Fenster zuhalten ließ, kritisierte die Verteidigung die schwammige Anklage, die keinen konkreten Anklagepunkt enthält. Ein Buchhändler ist ein Buchhändler und kein Inquisitor im Auftrag des Staatsschutzes. Nicht er entscheidet über Inhalte und nicht er muss alles lesen und kennen, was in einer Buchhandlung angeboten wird. Auch war er zu dem Zeitpunkt, da die Polizei mit dem Durchsuchungsbeschluss anrückte, gar nicht anwesend. In diesem Sinne äußerte sich auch C.: »Wir sind nicht der verlängerte Arm der Zensurbehörde.«

Seit 1988 ist »Interim« im Visier der Staatsschützer, jedes Blatt wird Wort für Wort durchleuchtet, jedes Exemplar zerschnippelt und ausgewertet, Spitzel in die linke Szene eingeschleust, groß angelegte Polizeiaktionen gestartet, um an Macher und Vertreiber heranzukommen. Und da das bis heute nicht gelungen ist, werden nun die Hebel bei linken Buchhändlern angesetzt. Die Befragung der Zeugen sprach Bände. Die Polizistin, die die Durchsuchung im Buchladen durchgeführt hatte, konnte sich an so gut wie nichts mehr erinnern. Der Zeuge vom Staatsschutz, der die linke Szene so im Allgemeinen beobachtet, wusste nur zu sagen: »Es ist eine sehr, sehr vielfältige Geschichte.« Ende des ersten Verhandlungstages.

Tag für Tag wird im öffentlich-rechtlichen und im privaten Fernsehen erschlagen, erschossen, erdrosselt oder vergiftet. Bis ins kleinste Detail. Wurde jemals ein Intendant angeklagt, das Internet abgeschafft? Absurd der Gedanke.

Quelle: Neues Deutschland vom 19.2.2011: Im Visier der »Zensurbehörde«