junge welt vom 17.02.2011: Prozeß gegen Buchhändler

Von Florian Möllendorf

In Berlin beginnen Verfahren wegen Verkaufs der Zeitschrift interim

Am Freitag beginnt in Berlin vor dem Amtsgericht Tiergarten ein Prozeß gegen den Geschäftsführer des Kreuzberger Buchladens »oh21«. Die Vorwürfe: »Anleiten zu Straftaten« (Paragraph 130a StGB) und »Verstoß gegen das Waffengesetz« (Paragraph 40 WaffenG). Aus diesem Anlaß hat die Initiative »unzensiert.lesen«, die seit August 2010 Solidaritätsarbeit für linke Buchläden und Zentren organisiert, die von Polizeirazzien betroffen waren, in Berlin zu einem Pressegespräch eingeladen. Neben Sandra Buchholz, der Sprecherin der Initiative, nahmen der Schriftsteller Dietmar Dath, Torsten Gel von Wikispeak und der Rechtsanwalt Sven Lindemann teil.

Im vergangenen Jahr kam es in Berlin zu zahlreichen polizeilichen Durchsuchungen in den Läden »Schwarze Risse«, »oh21«, »M99« und »Red Stuff«. In München war das linke Café Marat mehrfach Ziel von Razzien. In den meisten Fällen war das Landeskriminalamt auf der Suche nach Ausgaben der Zeitschrift interim. Begründet wurden die Aktionen mit dem Verdacht auf Verstoß gegen Paragraph 130a StGB und Paragraph 40 WaffenG. Gemäß den Durchsuchungsbeschlüssen richteten sich die Ermittlungsverfahren ab Juli 2010 gegen die Geschäftsführer der Läden. Die Staatsanwaltschaft wirft ihnen vor, die interim selbst ausgelegt zu haben und über den Inhalt des Blattes informiert gewesen zu sein.

»Sollte es am 18. Februar zu einer gerichtlichen Verurteilung kommen, würde dies eine Verschiebung der Rechtsprechung dahingehend bedeuten, daß Buchhändler für die bei ihnen ausliegenden Texte strafrechtlich verantwortlich gemacht werden können«, erklärte Sandra Buchholz am Mittwoch. Mit den laufenden Strafverfahren sollen sie unter Druck gesetzt werden, sich zu vorgeschalteten Zensurinstanzen staatlicher Behörden zu machen. »Dies entspricht weder den Vorstellungen linker Buchläden als Orte der Gegenöffentlichkeit noch dem demokratischen Prinzip der Meinungs- und Pressefreiheit«, betonte Buchholz. Die Betroffenen sehen in den Verfahren den Versuch der Staatsanwaltschaft, die Möglichkeiten zur staatlichen Verfolgung bestimmter politischer Einstellungen auszuweiten.

»Die Staatsanwaltschaft möchte mit diesem Verfahren ein neues Kapitel der Repression aufschlagen«, so die Einschätzung von Sven Lindemann. Juristisch sei das Thema erschöpfend behandelt. Der Strafverteidiger verwies auf die Urteilsbegründung des Berliner Kammergerichts aus den achtziger Jahren, wonach »nicht davon ausgegangen werden kann, daß der Inhaber eines Buch- und Zeitschriftenhandels alle in seinem Geschäft feilgebotenen Druckerzeugnisse überprüft«. »Die Staatsanwaltschaft möchte langjährige höchstrichterliche Rechtsprechung umgehen und juristisch neue Pflöcke einschlagen«, so Lindemann weiter. Damit mache sie einen Schritt weiter in Richtung Gesinnungsjustiz.

Sandra Buchholz forderte Pressevertreter und Öffentlichkeit auf, zahlreich zum Prozeßbeginn zu erscheinen und betonte die Notwendigkeit einer breiten Unterstützung für die betroffenen Läden.

Prozeßtermin: Freitag, 18. Februar, 9 Uhr, Amtsgericht Tiergarten, Turmstr. 99, Raum 455

Für die Prozeßkosten sind die Buchläden auf Spenden angewiesen:
Netzwerk Selbsthilfe e.V., Kontonr.: 7403887018, BLZ: 10090000, Verwendungszweck: Stichwort unzensiert-lesen

Quelle: junge welt vom 17.02.2011: Prozeß gegen Buchhändler