Junge Welt vom 28.12.2010: »Dann erscheint wie auf Abruf die Polizei«

Von Gitta Düperthal

Razzien in Berliner Buchläden wurden vom Tagesspiegel medial vorbereitet. Ein Gespräch mit Sandra Buchholz

Sandra Buchholz ist Sprecherin der Solidaritätsinitiative »Unzensiert lesen«, die sich nach den Razzien in Berlin gegründet hat.

Mitten im Weihnachtsgeschäft durchsuchte die Polizei am vergangenen Mittwoch mehrere Berliner Buchläden, »Schwarze Risse«, »oh 21« und den »Infoladen M99«, um Ausgaben der linken Szenezeitschrift Interim zu beschlagnahmen. Die Staatsanwaltschaft hatte nach vorherigen Durchsuchungen in diesem Jahr bereits Anklage gegen die Buchhändler erhoben - mit welcher Begründung?

Der Vorwurf lautete: Anleitung zu Straftaten nach Paragraph 130a im Strafgesetzbuch. In diesen Durchsuchungsbeschlüssen geht es ständig um einzelne Ausgaben der Interim. Die Zeitschrift ist nicht verboten, aber spezielle Textpassagen in einzelnen Ausgaben werden inkriminiert. In der Weimarerer Republik hieß dieser Paragraph noch »Anreizung zum Klassenkampf«. Für Buchhändler sind diese Durchsuchungen äußerst unangenehm. Bereitschaftspolizei umstellt den Laden, spielt Staatsgewalt und schickt Kunden weg - bei früheren Durchsuchungen wurden sogar Computer beschlagnahmt. Eine ungeheuerliche Machtdemonstration! Bisher ging die Rechtsprechung davon aus, daß Buchhändler nicht den Inhalt der Bücher und Zeitschriften in ihrem Sortiment kontrollieren müssen. Laut Rechtsanwalt Sven Lindemann, der den Buchladen »Schwarze Risse« vertritt, versucht die Staatsanwaltschaft nun, das zu revidieren. Ein Prozeßtermin soll Anfang 2011 anberaumt werden.

Was war der konkrete Anlaß, die Zeitschrift zu beschlagnahmen?

Moniert wurde diesmal ein Artikel der Interim, in dem eine Kampagne gegen den Tourismus in Berlin vorgeschlagen wurde. Es ging um die sogenannte Gentrifizierung, daß ganze Bezirke »aufgewertet« und Mieten verteuert werden, um die arme Bevölkerung zu verdrängen. Hintergrund ist, daß dort vermehrt Touristenkneipen und Ferienwohnungen entstehen. Und bemerkenswert ist, daß vor solchen Polizeiaktionen, wie zuletzt am 22. Dezember, meist Artikel im Tagesspiegel zu lesen sind, in denen entsprechende Texte skandalisiert werden. Dann erscheint wie auf Abruf die Polizei zur Durchsuchung. Auch diesmal hatte der Journalist Jörn Hasselmann Interim gelesen und am 19. Dezember ein Pamphlet veröffentlicht. Tenor: Linksextremisten wollen Berlin-Touristen angreifen. Da fragt man sich, welche Rolle diese Tageszeitung dabei übernimmt. Immerhin geht es ja um freie Meinungsäußerung.

Steht nicht jeder Buchhändler quasi mit einem Fuß im Gefängnis, wenn er für Inhalte von Schriften, die er vertreibt, haftbar gemacht werden soll?

Geht es nach der Berliner Staatsanwaltschaft, sollen nicht nur Widerstandsformen der außerparlamentarischen Opposition zu Straftaten erklärt werden, sondern auch das Zugänglichmachen von Flugblättern und Zeitschriften, die dazu auffordern. Man stelle sich hingegen vor, ein Buchhändler, der Thilo Sarrazin verkauft, soll haftbar sein. Abwegig wäre es nicht, diese Lektüre als Volksverhetzung zu bezeichnen. Allerdings erheben Staatsanwälte solche Anklagen meist im politischen Kontext - gegen linke Buchläden. Fragt sich: Wo fängt das an, wo hört das auf? Nicht nur, daß Buchhändler Schriften, die sie verkaufen, gar nicht in dieser Intensität lesen können. Wie sollen sie beurteilen, wie die Justiz Literatur bewertet? Ab wann gilt ein Zitat von Kurt Tucholsky als Volksverhetzung, ein Essay von Walter Benjamin über Haschisch als Verstoß gegen das Werbeverbot für Betäubungsmittel, ein Roman von Elfriede Jelinek als die Menschenwürde verletzende Gewaltdarstellung?

Neben den linken Buchläden in Berlin, die in diesem Jahr schon siebenmal durchsucht wurden, trat die Polizei im Münchner »Kafe Marat« im November die Tür ein. Dieser Buchladen war zum dritten Mal betroffen. Droht Zensur?

Welcher Text, welches Flugblatt als »Aufforderung zu Straftaten« geahndet wird, ist eine Frage der politischen Opportunität. Macht sich jemand strafbar, der dazu aufruft, einen Naziaufmarsch zu blockieren? Gegen einen Castortransport zu demonstrieren? Einen Bauplatz zu besetzen, um ein Projekt wie »Stuttgart 21« zu verhindern? Es ist eine Frage des Kräfteverhältnisses.

Wir müssen uns stärker zusammenschließen: Unsere Kundschaft, Freunde, Unterstützer und die Initiatoren und Mitarbeiter der Läden. Einen Solidaritätsaufruf im Internet unter www.unzensiert-lesen.de haben bereits 1000 Personen unterschrieben.