Junge Welt 20.11.2010: Buchhändler sollen sich selbst zensieren

Von Florian Möllendorf

Razzien in linken Projekten zielen auf Besitzer und Geschäftsführer. Solikampagne in Berlin

Tatort Buchladen« war der Titel einer Veranstaltung im Festsaal Kreuzberg in Berlin am Mittwoch abend; eingeladen hatte die Initiative »unzensiert lesen«. Die Gruppe hat sich im August gegründet, um Solidaritätsarbeit zu organisieren, nachdem erneut zahlreiche Razzien der Polizei in linken Läden und Zentren stattgefunden haben. In den meisten Fällen hatte das Landeskriminalamt die Räumlichkeiten unter anderem der Läden »Schwarze Risse«, »oh21«, »M99« und »Red Stuff« nach der Zeitschrift interim durchsucht. Begründung für die Aktionen war der Verdacht auf Verstoß gegen Paragraph 130a Strafgesetzbuch (Anleiten zu Straftaten) und Paragraph 40 WaffenG (Auffordern zur Herstellung verbotener Waffen).

In dem gut gefüllten Festsaal referierten neben Olga Schell, die für die betroffenen Läden sprach, Rechtsanwalt und Autor Oliver Tolmein und die Journalisten Anne Roth und Fritz Burschel. Im Mittelpunkt der Diskussion stand die Frage nach Abwehrmöglichkeiten gegen die Kriminalisierungsversuche von linken Projekten und Publikationen. Ziel von Polizei und Justiz sei es, Händler und Leser zu verunsichern und einzuschüchtern, so Schell. Die Tragweite der Razzien sei den Betroffenen selbst erst sehr spät klargeworden. Inzwischen rückten nun nämlich die Ladenbetreiber in das Visier der Staatsschützer. Das gehe auch aus den Durchsuchungsbeschlüssen hervor, die sich direkt gegen die Geschäftsführer der jeweiligen Buch- und Infoläden richteten. Demnach wirft ihnen die Staatsanwaltschaft vor, die interim selbst ausgelegt zu haben und über den Inhalt des Blattes informiert gewesen zu sein.

»Zwei wesentliche Mittel für staatliche Repression sind die Deutungshoheit über den Inhalt politischer Äußerungen und eine strafrechtliche Strategie zu ihrer Verfolgung«, erklärte Oliver Tolmein, der die Ermittlungsverfahren als reine Machtdemonstration bezeichnete. Seit der Wiedereinführung des Paragraphen 130 a im Jahr 1987 sei es lediglich zu vier Verurteilungen gekommen.

Für Fritz Burschel ebnet vor allem die Etablierung eines bestimmten Extremismusbegriffes »durch willfährige Wissenschaftler und Journalisten« die staatliche Verfolgung linker Publikationen und Projekte. Diese Antiextremismusstrategie, die eine Gleichsetzung von Links- und Rechtsextremismus zum Ziel habe, ermögliche die Stigmatisierung und Diskriminierung von Meinungsbildung außerhalb staatlich festgelegter Grenzen. »So sollen Buchhändler zu Wächtern über Inhalte der Publikationen gemacht werden«, warnte Burschel.

Die Referenten waren sich einig, daß die Mobilisierung einer breiten Öffentlichkeit und Unterstützer über die betroffenen Läden hinaus wichtig seien, um der staatlichenVerfolgung etwas entgegenzusetzen. »Auf keinen Fall werden Polizei und Justiz uns dazu bringen, uns selbst zu zensieren«, so das Fazit.